„Müssen Differenzen aushalten“: Tausende protestieren in Leipzig gegen Faschismus und AfD

Tausende Menschen haben am Dienstagabend in Leipzig gegen die AfD protestiert. Oberbürgermeister Jung und Sachsens stellvertretender Ministerpräsident Günther hielten Reden – ein Bündnis gegen rechts zog über den Ring.

Tausende haben am Dienstagabend in Leipzigs Innenstadt gegen Rechtsextremismus demonstriert. Allerdings nicht an einem, sondern an zwei Orten: Eine große Demonstration begann 18 Uhr auf dem Augustusplatz, geplant vom neu gegründeten Bündnis „Solidarische Vernetzung Sachsen“ und mit einer Rede von Sachsens stellvertretendem Ministerpräsidenten Wolfram Günther (Grüne). Zudem rief Pfarrer Christian Wolff im Nikolaikirchhof zu einem Protest „für Demokratie“ und „gegen völkischen Nationalismus“ auf, wofür auch Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) warb und dort eine Rede hielt.

Der Augustusplatz war am Dienstagabend zur Hälfte gefüllt, eine Polizeisprecherin berichtete am Abend auf LVZ-Anfrage von einer „mittleren vierstelligen Teilnehmerzahl“. Der Zwickauer Autor und Aktivist Jakob Springfeld trat ans Mikrofon: Es sei wichtig, dass man „die Energie der letzten Tage aufrecht“ erhalte, sagt er. Aus Boxen erklingen Songs der Band Kraftklub, die auch singen: „Nazis raus ruft es sich leichter dort, wo es keine Nazis gibt.“

Auch „Kritik an der Ampel-Regierung“ ein Thema

Das, sagte Springfeld, sehe er ganz ähnlich: Die Idee für die „Solidarische Vernetzung Sachsen“ sei ihm und anderen während einer Lesereise durch kleinere Orte in ganz Sachsen gekommen. Dort sei es „eigentlich noch wichtiger“ sich gegen Rechtsextremismus zu engagieren.

Aber auch hier in Leipzig, führte Springfeld gegenüber LVZ aus, sei es das Ziel, ein „Gefühl des Zusammenhalts“ zu erzeugen. „Es soll allen bewusst werden, dass das Ruder zu einer AfD-Machtbeteiligung doch noch rumzureißen ist.“ Was Springfeld auch wichtig ist: „Kritik an der Ampel-Regierung zu formulieren.“

Spätestens in diesem Moment zeigte sich eine gewisse innere Widersprüchlichkeit der Leipziger Proteste. Denn nun ergriff Sachsens Umweltminister Wolfram Günther (Grüne) das Wort: „Wir stehen hier zusammen und hören auch nicht auf, bis dieser braune Sumpf dort hingeht, wo er herkommt“, sagt er. „Wir brauchen das nicht.“ Auf dem Augustusplatz forderte Günther: „Lasst uns auch das Gespräch suchen mit Menschen, die jetzt bereit sind, so etwas zu wählen.“

„Gegen den Faschismus, für eine progressive und faire Politik für alle“

Wie geht das zusammen: die Ampel kritisieren, aber Grüne mit Regierungsverantwortung sprechen lassen? Organisator Springfeld: „Wir müssen hier auch Meinungsdifferenzen aushalten.“ In erster Line sei es „wichtig, dass Menschen kommen, die vorher vielleicht noch nie auf antifaschistischen Protesten waren.“ Und Minister Günther fügte an: „Wir sind alle Antifaschisten, das verbindet uns. Für mich ist Antifa gleichbedeutend mit Antifaschismus und das sollten wir alle sein.“

Gegen 19 Uhr startete der Protestzug über den Ring, in Richtung Wilhelm-Leuschner-Platz. Laut einer Polizeisprecherin gab es bei den Protesten keine größeren Zwischenfälle. Vereinzelt sei bei der Demonstration über den Ring Pyrotechnik gezündet worden.

Etwas anders sah das Pfarrer Wolff. Nach der Leipziger Demonstration gegen rechts, an der sich am vorletzten Sonntag Zehntausende beteiligten, wollte er ein neues zivilgesellschaftliches Bündnis mit dem Namen „Leipzig für alle“ begründen. Allerdings: ohne schwarzen Block, ohne zu radikale Töne. Zur „Solidarischen Vernetzung Sachsen“ bestand noch kein Kontakt – und die Akteure von „Leipzig nimmt Platz“, die den Protest eine Woche zuvor organisiert hatten, waren noch mit dessen Auswertung beschäftigt.

Also meldete Wolff eine eigene Versammlung an, die ab 17.45 Uhr am Nikolaikirchhof begann und auf der später auch Oberbürgermeister Burkhard Jung vor rund 200 Menschen sprach. „Danke, dass ihr da seid“, ergriff er an der Nikolaisäule das Wort. Dass Menschen zusammenstehen wie am Dienstagabend gebe ihm „ganz persönlich Mut, jeden Morgen aufzustehen und weiterzumachen.“ Er zitierte den Liedermacher Wolf Biermann: „Denn auch Ermutiger brauchen Ermutigung.“

In seiner Rede kritisierte Jung die Verrohung der Gesellschaft. „Wir haben uns fast gewöhnt an die Beschimpfungen und das Nicht-Zuhören.“ Und er mahnte in Richtung AfD-Politiker, die bereits Personal und Expertise für mögliche Landesregierungen suchen: „Am Ende muss der, der Verantwortung trägt, die Menschen lieben.“ Das, so Jung, sei „der große Unterschied gegenüber den Rassisten von Rechts: Dort liebt man nicht die Menschen, sondern nur sich selbst.“

Demos am Jahrestag der Machtübergabe an Hitler

Die Demonstrationen am Dienstag fielen auf den 91. Jahrestag der Machtübergabe an Adolf Hitler und die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933. Der Termin ist bewusst gewählt: Im aktuellen Jahr mit mehreren richtungsweisenden Wahlen, unter anderem in Sachsen, müsse man „mehr denn je zusammenhalten – gegen den Faschismus, für eine progressive und faire Politik für alle“, hieß es im Aufruf der „Solidarischen Vernetzung Sachsen“.

Große Proteste finden seit etwa zwei Wochen in ganz Deutschland statt. Am 21. Januar kamen in Leipzig mehr als 60.000 Menschen zusammen, um ein Zeichen gegen Rechtsextremismus und die AfD zu setzen.


Cops

Versammlungen in der Leipziger Innenstadt
Ort: Stadt Leipzig
Zeit: 30.01.2024, 17:00 Uhr bis 22:00 Uhr

Die Polizeidirektion Leipzig führte gestern mit Unterstützung der sächsischen Bereitschaftspolizei einen Einsatz zur Absicherung von zwei angezeigten Versammlungen im Bereich der Leipziger Innenstadt durch. Insgesamt waren etwa 140 Kräfte im Einsatz.
Gegen 18:00 Uhr sammelten sich bereits rund 2.000 Teilnehmende einer Versammlung unter dem Motto „Sachsen organisiert sich: Für progressive/faire Politik – gegen Faschismus! 91 Jahre nach NS-Machtergreifung auf die Straße«“ auf dem Augustusplatz. Nach der Auftaktkundgebung lief die Versammlung als Aufzug über den Innenring zurück zum Gewandhaus und wurde um 20:40 Uhr durch den Versammlungsleiter beendet. In der Spitze versammelten sich etwa 6.000 Personen.

An der stationären Kundgebung „Leipzig für Alle- Für Demokratie und Menschenrechte, gegen völkischen Nationalismus und AfD“ auf dem nördlichen Nikolaikirchhof nahmen in dem Zeitraum von 18:00 Uhr bis 19:30 Uhr etwa 200 Personen teil. Der Oberbürgermeister der Stadt Leipzig war ebenfalls Teilnehmer der Versammlung und hielt einen Redebeitrag.

Die Versammlungen verliefen friedlich. Im Zusammenhang mit dem Versammlungsgeschehen wurden einzelne Verstöße wegen des Abbrennens von Pyrotechnik sowie wegen Beleidigung registriert. Zudem wurde bei dem Aufzug eine mittlere zweistellige Anzahl von Vermummten festgestellt, weswegen ein Ermittlungsverfahren wegen des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetzt eingeleitet wurde.